Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
Lieber Genosse Kern,

vor kurzem erreichte uns die traurige, schreckliche Nachricht vom erneuten Giftgasangriff auf die syrische Bevölkerung. Dutzende Tote, darunter auch Kinder. Die Bilder von ihren Leichen brennen sich ins Gedächtnis, lassen viele von uns nicht mehr ruhig schlafen – denn es könnten genauso gut unsere Kinder sein, die da regungslos in ausgebombten Fabrikshallen liegen. Jedes einzelne von ihnen ist ein Mahnmal für die Gräuel des Krieges.

Sie sind aber auch Mahnmale für die Abgestumpftheit und Ohnmacht der Europäischen Union, der nationalen Regierungen, der Politik insgesamt. Denn wir können zwar nichts für den Konflikt vor Ort, aber ganz viel dafür, dass diesen Menschen immer noch nicht jene Hilfe zuteilwird, die sie benötigen würden: Sichere Fluchtwege, eine ordentliche Finanzierung der Lager vor Ort, eine ernsthafte europäische Initiative zur Beendigung des Konflikts.

Von uns mitfinanzierte Hetze & Rechtsnationalismus

Fast täglich verschärft sich parallel dazu der öffentliche Diskurs zu Flucht & Asyl. Angeheizt vom Boulevard, der immer noch und immer stärker aus Steuermitteln mit Inseraten versorgt wird und völlig losgelöst von jeglichem moralischen Empfinden, weiterhin ungeniert seine Hetze verbreitet. Es ist diese Hetze, die unsere Bevölkerung spaltet. Es ist diese Spaltung, die EntscheidungsträgerInnen dazu treibt, vor dem Rechtsnationalismus zu kapitulieren.

Lieber Genosse Kern, Du trägst eine Verantwortung – als Parteivorsitzender und als Bundeskanzler. Es ist wahr, Österreich hat bereits viel geleistet. Und ja, auch Dir gebührt für Deine solidarische Haltung damals als ÖBB-Chef sicherlich Dank und Anerkennung. Doch wo ist diese Haltung geblieben? Darf es wirklich sein, dass im Jahr 2017 der sozialdemokratische Kanzler einen Brief an die EU schreibt, um sich aus der Verantwortung zu stehlen?

Ist dieser Fokus auf „Unsere Leut“, wer auch immer das sein soll, wirklich der Weg den Du gehen möchtest und bei dem Dich die Menschen ein Stück begleiten sollen? Ich kann Dich auf diesem Weg nicht begleiten, so gern ich das würde. Und ich würde wirklich sehr gerne dazu beitragen, dass die SPÖ wieder erstarkt. Aber wie soll ich das mit mir vereinbaren, wenn ein Erstarken der SPÖ auch die Legitimierung eines menschenrechtsbedrohlichen Kurses bedeutet?

Eine Frage des Gewissens

Ich bin Nachkomme von Flüchtlingen. Mein Großvater, meine Mutter, meine Tanten, Onkel und viele FreundInnen und Bekannte konnten in den 1970er-Jahren von Chile nach Österreich flüchten. Weil dort der Faschismus den aufblühenden Sozialismus zertrümmerte und mit ihm zigtausende Existenzen für immer vernichtete. Meine Familie hatte Glück im Unglück, die „Festung Europa“ war noch nicht erbaut, die Sozialistische Partei Österreichs empfand es damals als Auszeichnung, internationale Solidarität auch wirklich zu leben.

Heute wäre das nicht mehr möglich. Weil, so höre und lese ich immer öfter, „wir schon genug geholfen haben“. Was soll das bedeuten? Kann es für uns SozialdemokratInnen wirklich eine Obergrenze der Solidarität geben? Kann man den Ärmsten und Schwächsten wirklich „genug“ helfen und dann eine mit den Rechtskonservativen ausgepokerte Zahl festlegen, als Grenze des ruhigen Gewissens? Nein, mein Gewissen ruht nicht.

Wenn ich die Bilder von Kinderleichen sehe und weiß, dass das jetzt gerade passiert, oftmals gar nicht weit entfernt von uns, dann kann mein Gewissen niemals ruhen. Das betrifft aktuell die Giftgasopfer in Syrien, die Ertrunkenen im Mittelmeer oder die Verhungerten im Jemen, um nur einige zu nennen. Mein Gewissen kann nicht ruhen, solange ich nicht die Gewissheit habe, dass wir als Sozialdemokratie alles machen was möglich ist, um zu helfen.

Worauf warten? Jetzt den Kurs ändern!

Und Nein, das machen wir aktuell definitiv nicht. Aktuell schreiben wir Briefe an die EU um zu verhindern, dass wir Minderjährige in Österreich aufnehmen müssen. Aktuell quälen wir uns durch eine Koalition mit Menschen, die aus politischem Kalkül völlig offen die Einschränkung von Grundrechten fordern. Und immer mehr geht in dem ständigen Abwehrkampf gegen diese Leute von dem verloren, was unsere Bewegung ausmacht.

Lieber Genosse, lass mich abschließend also eine Bitte formulieren. Als Vater eines zwei Monate alten Sohnes, der eine Zukunft haben soll in einer möglichst solidarischen, gerechten, freien und gleichen Gesellschaft. Als einfaches Mitglied jener Partei, deren Vorsitzender Du jetzt bist: Bitte, ändere deinen Kurs. Öffne dein Herz, schau Dir die Fotos der giftgas-ermordeten Kinder aus Syrien, der ertrunkenen Flüchtlingskinder an den Stränden am Mittelmeer, der verhungerten Kinder aus dem Jemen an und dann, bitte: Handle!

Bitte lass nicht zu, dass diese Jahre rückblickend als Zeit des Niedergangs der Menschenrechte betrachtet werden. Lass nicht zu, dass Rechtsnationalismus innerhalb der Sozialdemokratie salonfähig wird, denn Rechtsextremismus und Neofaschismus werden auch dadurch relativiert und legitimiert. Wenn wir unsere wichtige Rolle als Instanz der Solidarität aufgeben und jene als antifaschistisches Bollwerk verlieren, dann blicken wir wahrlich einer dunklen, kalten und gefährlichen Zeit entgegen.

Noch lässt sich das verhindern. Worauf also warten?
Es ist wahrlich Zeit, die Dinge zu ordnen.

Freundschaft,
Sebastian Bohrn Mena


Eine gekürzte Variante des Textes wurde am 7. April 2017 in der Printausgabe der „Die Presse“ veröffentlicht.
Foto: SPÖ Presse und Kommunikation

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