Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Faymann!
Lieber Genosse Werner!
Ich schreibe Dir diesen offenen Brief um Dir einen authentischen Einblick in die Gedankenwelt eines Mitglieds von der Basis zu ermöglichen. Um Dich zeitnah zu informieren, dass ich ernsthaft überlege mein Engagement in der SPÖ zu beenden und weil ich Dir auch erklären möchte, wieso ich inzwischen soweit gekommen bin. Ich schreibe Dir, weil ich eine Antwort möchte. Ja, von Dir persönlich.
Seit 7 Jahren engagiere ich mich für die Sozialdemokratie. An den unterschiedlichsten Orten, auf die vielfältigste Art und Weise, stets ausschließlich ehrenamtlich. Ich habe an hunderten Sitzungen teilgenommen, ich habe Funktionen übernommen und mich aktiv in viele interne Arbeitsgruppen eingebracht. Ich habe in Wahlkämpfen mitgewirkt und dabei zuletzt über 1.000 Stimmen direkt für unsere Bewegung in Wien beigetragen.
Mir folgen auf Facebook fast 20.000 Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen meine Haltungen und Positionen unterstützen. Im vollen Bewusstsein, dass ich Sozialdemokrat bin und den klaren Anspruch habe, mich in unserer Bewegung kritisch-konstruktiv einzubringen. Täglich tausche ich mich mit ihnen aus, beantworte ihre Kommentare und Nachrichten und treffe manche auch persönlich zum Gespräch.
Immer weniger gelingt es mir und vielen anderen sinnvoll zu erklären, wieso es sich doch noch lohnt in der SPÖ für eine Veränderung zu wirken. Der Grund dafür ist nicht die Geschichte der Sozialdemokratie oder die mögliche Zukunft, sondern ihre Gegenwart. Der Grund dafür sind die Entscheidungen, die Du als Parteivorsitzender und Regierungschef stellvertretend für uns triffst. Hinter denen ich immer weniger stehen kann.
Ich kann die Motive für Dein Handeln nicht nachvollziehen, will ich mich nicht zynischer Erklärungsmodelle bedienen. Ich möchte Dir ein konkretes Beispiel nennen, das für mich, als direkter Nachkomme von geflüchteten Menschen, besonders schwer wiegt.
Ja, wir brauchen Ordnung in der „Flüchtlingsfrage“. Und die hätten wir, wenn man das Durchgriffsrecht nutzen würde. Wenn man die Betreuung der Schutzsuchenden an jene überträgt, die sich damit auskennen und die richtige Haltung einnehmen: NGOs, nicht profitorientierte Konzerne. Wenn man Mittel nicht für den Bau von Zäunen, sondern für den Bau von Brücken, etwa in Form von Deutschkursen, bereitstellen würde.
Wann immer ich das thematisiere, höre ich: „Das ist nicht möglich mit der ÖVP. Wir sind in einer Koalition, da muss man Kompromisse machen. Wenn wir jetzt wählen gehen, dann kommt Blau-Schwarz“. Mir ist bewusst, dass man sich in einer Koalition einigen und nach gemeinsamen Lösungen streben muss. Aber bei den grundlegenden Werten der Sozialdemokratie darf man keine Kompromisse machen. Man darf es einfach nicht.
Mir ist bewusst, dass ÖVP und FPÖ längst eine neue gemeinsame Regierung vorbereiten. Und dass das vor allem die Ärmsten und Schwächsten treffen wird. Aber das Erstarken der Rechten ist nicht auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen und auch sicher nicht die Schuld der Flüchtlinge. Sie ist dem Agieren der Regierung und mangelnder Durchsetzungsfähigkeit unserer Parteispitze in zentralen Fragen geschuldet.
Wir bringen unsere Positionen nicht durch, setzen aber immer mehr von den Positionen der Rechten um. Ein Zaun ums Land, das Heer an der Grenze? Seit 25 Jahren undenkbar, jetzt Realität. Die de facto Aussetzung des Rechts auf Asyl? Früher undenkbar, jetzt Realität. Die Kürzung von Sozialleistungen für MigrantInnen und ihre Kinder oder die Einschränkung der EU-Personenfreizügigkeit? Früher undenkbar, schon bald Realität.
Sag mir, Genosse Parteivorsitzender, wo wird die sozialdemokratische Kanzlerschaft hier sichtbar? Woran erkennen wir in der „Flüchtlingsfrage“, dass wir den Regierungschef stellen? Wie kann ich Deine Entscheidungen vor mir selbst und den Menschen argumentieren, die sich eine echte Sozialdemokratie in diesem Land wünschen, als schützende und stützende Kraft für die Ausgebeuteten, die Unterdrückten und die Diskriminierten?
Abschließend möchte ich Dir etwas mitgeben: Man muss nicht um jeden Preis gewählt werden. Manche Sachen darf man nicht machen, nur weil man Stimmen gewinnen möchte. Ganz abgesehen davon, dass das ohnehin nicht funktioniert, wenn man die SPÖ sein und bleiben möchte. Denn die Menschen wählen uns, weil und wenn wir uns für sie einsetzen. Niemand braucht eine SPÖ, die konservativ-rechte Politik macht.
Was wir brauchen ist eine Sozialdemokratie, die als solche klar erkennbar ist – in ihrer Regierungspolitik, in ihrer Personalauswahl und in dem wie sie mit ihren Mitgliedern umgeht. Wir brauchen eine Sozialdemokratie, die den Mut hat zu ihren Werten zu stehen, auch wenn das Stimmen kostet und auch wenn der Boulevard dagegen ist. Wir brauchen eine Sozialdemokratie, die sich traut an sich selbst zu glauben, damit auch andere wieder an sie glauben können.
Mit freundschaftlichen Grüßen
Sebastian Bohrn Mena