Sie sollen nicht mehr unbegleitet ins Stadtbad gehen. Ihnen soll die Mindestsicherung gekürzt werden. Sie sollen nur noch eingeschränkt medizinisch behandelt werden. Sie sollen nicht arbeiten und wählen dürfen. Sie wollen gar nicht Deutsch lernen. Sie wollen nur unser Geld. Sie wollen ihr Land nicht verteidigen. Sie: Die „Fremden“.

In der öffentlichen Auseinandersetzung wird schon lange nicht mehr differenziert zwischen AsylwerberInnen, Asylberechtigten, MigrantInnen, Menschen mit anderer Hautfarbe, Menschen die als ihre Nachkommen hier geboren und aufgewachsen sind. Die Angst vor den „Fremden“ floriert und ihr folgt die Wut, der Hass, die Ausgrenzung, die Erodierung der Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens.

Die “Fremden”

Wer sind „die“ eigentlich? Wer sind die „Fremden“, die aus einer anderen Kultur stammen? Ich zum Beispiel. Oder meine Mutter. Meine Onkel und Tanten, meine Cousinen und Cousins. Unsere Elterngeneration wurde als Flüchtlinge in Österreich aufgenommen, weil sie wegen ihrer politischen Überzeugung verfolgt wurden. Mein Großvater wurde deswegen in ein Konzentrationslager gesperrt und gefoltert.

Waren sie „Kriegsflüchtlinge“? Nein. Kamen sie aus „wirtschaftlichen Gründen“ nach Österreich? Nein. Macht das einen Unterschied? Nein. Sie hätten viel lieber in ihrer Heimat, an der Seite ihrer Verwandten und Freunde, in ihrer gewohnten Umgebung, in ihrer Sprache und ihrer Kultur, in Sicherheit und Würde, in Freiheit und Selbstbestimmtheit, ihr Leben entlang ihrer Prinzipien und Vorstellungen gestaltet.

Aber sie durften es nicht. Man hat es ihnen nicht erlaubt. Und so wurden sie jahrelang von einer Diktatur unterdrückt, weil sie andere politische Ansichten hatten. Weil sie sich u.a. für eine gerechte Reichtumsverteilung eingesetzt hatten, für einen freien Hochschulzugang, für eine Gesellschaft, die den Wert eines Menschen nicht nach seinem Vermögen bemisst. All das, wofür ich mich hier in Österreich auch politisch engagiere.

Es war kein historischer „Zufall“, dass sie nach Österreich kommen konnten. Ihnen wurde Asyl gewährt – weil Verantwortung übernommen wurde. Weil die PolitikerInnen ihrer Zeit sich verantwortlich gefühlt haben, selbst für das, was Menschen tausende Kilometer entfernt widerfährt. Weil die Unterstützung von Notleidenden damals als Pflicht verstanden wurde, selbst wenn diese nicht die gleiche Sprache teilten.

Und deswegen kann ich heute diese Zeilen schreiben. Nur deswegen konnte ich hier relativ unbeschwert aufwachsen. Deswegen konnte ich mich von frühster Jugend an politisch engagieren ohne Angst haben zu müssen, aufgrund dessen diskriminiert, unterdrückt oder verhaftet zu werden. Deswegen konnte ich studieren, mich beruflich entfalten und eine eigene Existenz nach meinen Vorstellungen aufbauen.

Ein Resultat internationaler Solidarität

Wenn ich in diesen Tagen mit der wachsenden Angst vor Schutzsuchenden, vor MigrantInnen allgemein konfrontiert bin, dann empfinde ich das, was die Menschen damals empfunden haben: Dass ich eine Verantwortung trage. Dass ich solidarisch sein muss. Dass mich das was angeht. Und es findet nicht mal tausende Kilometer von meiner Wohnung entfernt statt sondern an der burgenländischen und steirischen Grenze.

Ich trage eine historische Verantwortung. Als direkter Nachkomme von Flüchtlingen. Als Mensch, der ein unmittelbares Resultat internationaler Solidarität ist. So wie mittlerweile fast die Hälfte der Wiener Bevölkerung. Das sollten wir nicht vergessen: Unsere Nachbarin. Unser Arbeitskollege. Unsere Freunde. Die Menschen, die mit uns Fußballspiele besuchen, mit uns in der U-Bahn sitzen, mit uns auf der Straße gehen.

Sie alle wären nicht hier, wenn wir uns schon immer unseren Ängsten und unserer Wut hingegeben hätten. Die Flüchtlinge, die MigrantInnen, die „Anderen“, die „Fremden“: Das sind wir selbst. Und es macht für die Betroffenen überhaupt keinen Unterschied, ob sie vor einem Krieg, vor Terror, vor Hunger oder vor Unterdrückung fliehen. Sie machen das nicht freiwillig, sondern weil sie müssen. Weil es der letzte Ausweg ist.

Wir, die Flüchtlinge, MigrantInnen und ihre Nachkommen sind noch nicht so sichtbar, wie wir es sein sollten. Wir sind noch nicht fair in den Positionen vertreten, in denen wir selbst gestalten und entscheiden können. Noch sind wir nicht die PolitikerInnen, die Führungskräfte oder die UnternehmerInnen in dem Maße, das dem Bevölkerungsanteil entspricht. Aber es ist nur eine Frage der Zeit bis das passiert – wenn man uns lässt. Entfaltung geschieht, wenn man sie fördert. Wenn man den Wert und die Bereicherung durch Unterschiedlichkeit und Vielfalt erkennt.


Foto: Mein Großvater Gregorio Mena Barrales 1975 bei seiner Flucht von Chile nach Österreich

Ähnliche Beiträge