„Die Kraft und die Stärke der Sozialistischen Partei liegt in den Betrieben, bei den arbeitenden Menschen. Jeder Sozialist ist daher ein Gewerkschafter.“

So steht es im SPÖ-Parteibuch meines Vaters von 1970, gleich links auf der Umschlagsseite. Ich blättere gerne in dem kleinen Büchlein mit dem Stempel der Bezirksorganisation Floridsdorf, mit den Beitragsmarken und den vielen Parolen. Sie stammen aus einer anderen Zeit und so sind sie auch formuliert. Doch sie tragen etwas Starkes, etwas Zeitloses in sich. Den Anspruch unsere Gesellschaft dahingehend zu verändern, dass alle Menschen irgendwann die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben haben.

Daran hat sich nichts geändert. Ich frage mich, beim durchblättern des schönen, in roten Stoff gebundenen Büchleins, ob diese Ansprüche schon vor 45 Jahren als „Utopien“ abgetan wurden oder ob irgendwer jemals wirklich an ihre Umsetzung geglaubt hat. Heute findet sich wenig davon in unserer Bewegung. Sowohl die hehren Ziele als auch der notwendige Kampfgeist sind verloren gegangen. Und das ist dramatisch, nähern wir uns doch in der Reichtumsverteilung gegenwärtig Verhältnissen wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts an.

„Die Arbeiter haben heute mehr zu verlieren als ihre Ketten; sie haben noch immer eine Welt zu gewinnen.“

Auch das steht im SPÖ-Mitgliedsbuch von 1970. Doch wer sind “die Arbeiter“ im Jahr 2016?

Es sind vorwiegend die prekär und oder „atypisch“ Beschäftigten. Die vielen Menschen, die nur noch befristete oder Werkverträge erhalten oder auf Leiharbeitsbasis beschäftigt sind. Die Menschen die Teilzeit arbeiten müssen obwohl sie gerne Vollzeit beschäftigt wären und die deswegen finanziell nicht auskommen.

Die Menschen die Praktika machen und die nicht, wie es sein müsste, in Ausbildungs-Verhältnissen sondern in Wirklichkeit in reinen Ausbeutungs-Verhältnissen gehalten werden. Diese Beschäftigungsformen betreffen übrigens keine Minderheit mehr, es sind mittlerweile über 1,2 Millionen Menschen – also ein Drittel aller ArbeitnehmerInnen.

Und selbst diese statistische Größe umfasst nicht alle Arbeitsverhältnisse. So sind die vielen undokumentiert arbeitenden Menschen, beispielsweise Ernte-HelferInnen, Bauarbeiter und grundsätzlich all jene, die man landläufig unter „SchwarzarbeiterInnen“ subsumiert, naturgemäß nicht erfasst.

Es sind aber auch die Scheinselbstständigen. Darunter fallen immer öfter Menschen, die als „ICH-AGs“ oder „Ein-Personen-Unternehmen“, vielfach als „Start Ups“ verklärt und wie juristische Firmenkonstrukte behandelt werden. Sie haben keinen Anspruch auf Urlaubsgeld, quasi keine Krankenversicherung und unterliegen nicht dem Arbeitsrecht.

Das sind nicht die hippen Designer in den Lofts. Es ist die Regalbetreuerin im Supermarkt, es ist die Alten-Pflegekraft im Wohnheim, es ist der Paketzusteller der die Online-Bestellungen bringt oder die Behindertenbetreuerin im Sozialprojekt. Man schätzt diese stark anwachsende Gruppe auf bis zu 200.000 Menschen in Österreich.

„Die Sozialisten fordern darum das Mitbestimmungsrecht der Arbeitenden in den Betrieben als Teil der staatsbürgerlichen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung.“

Doch wer vertritt auf parteipolitischer Ebene die Interessen dieser Menschen? Wer sorgt dafür, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen an ihre Lebensrealitäten angepasst werden, wer schützt sie vor dem endgültigen sozialen Abstieg? Wie kann der Anspruch an Teilhabe und Mitbestimmung von ArbeitnehmerInnen umgesetzt werden, wenn es die betrieblichen Strukturen in der gewohnten Form immer weniger gibt?

Die Gewerkschaften beginnen sich ihrer Verantwortung zu stellen und vertiefen ihr Angebot. Die Wirtschaftskammer hingegen, die zu über 70% aus sogenannten EPU besteht, ignoriert ihre mitgliederstärkste Gruppe völlig. Ein luftleerer Raum entsteht: Einem relevanten Teil der ArbeitnehmerInnen werden die Rechte vorenthalten und sie werden vom Beteiligungsprozess ausgeschlossen. Nicht nur in den Interessenvertretungen sondern auch auf parteipolitischer Ebene.

Früher, in der gewohnten ideologischen Aufteilungslogik, war die SPÖ für die ArbeitnehmerInnen und die ÖVP für die Wirtschaftstreibenden zuständig. Heute gilt diese Aufteilung nicht mehr: Just in einer Situation, in der Unternehmen bewusst eine profitmaximierende Grenzüberschreitung zulasten der ehemals „typisch“ Beschäftigten vornehmen, um sich Personalkosten und Beiträge zur sozialen Absicherung der Menschen zu sparen.

„Der Mensch darf nicht vor (…) den losgelassenen Robotern kapitulieren; er muss durch eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung die Maschinen und die Manager im Zaum halten (…).“

Unsere Wirtschaft wird in den nächsten Jahren grundlegenden Veränderungen unterworfen, welche Menschen in ihrer Selbstbestimmtheit und Freiheit angreifen wird. Große globale Trends wie „Shared Economy“, „Industrie 4.0“ und die fortschreitende Flexibilisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt, drohen nicht nur den Alltag der KonsumentInnen sondern vor allem auch der ArbeitnehmerInnen nachhaltig zu beeinträchtigen.

Warnt die eine Seite vor dem Verlust von Millionen von Arbeitsplätzen, preist die andere die Vorzüge einer wissensbasierten Ökonomie an. Ja, automatisierbare Jobs können und sollen von Maschinen übernommen werden. Es muss aber sodann auch echte Möglichkeiten der Höherqualifizierung und beruflichen Weiterentwicklung geben, sonst werden die Menschen an den Rand dieser neuen Hochleistungs-Gesellschaft gedrängt, anstatt von ihr zu profitieren.

Es ist absehbar, auch im Schatten der zunehmenden wirtschaftlichen Konzentration auf und durch Konzerne, dass künftig immer mehr versucht werden wird Menschen in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zu treiben. Die Aufgabe der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie muss daher sein dies entschieden zu bekämpfen. Diesen Kampf gilt es auf betrieblicher, sozialpartnerschaftlicher wie parteipolitischer Ebene zu führen.

Die große Gewerkschafterin Käthe Leichter schrieb 1928: „Die Furcht, Arbeit zu verlieren, macht die Heimarbeiterschaft gefügig und lässt sie vor der Beanspruchung ihrer gesetzlichen Rechte zurückschrecken.“ Wir befinden uns 2016 in einer ähnlichen Situation. Bloß sind es jetzt nicht mehr nur heimarbeitende Frauen sondern immer breitere Teile der Gesellschaft, die eine starke Unterstützung bei der Einforderung und Durchsetzung ihrer Rechte benötigen.

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